Russland 2013
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Unsere Fahrt führt uns von Rostov am Don ans Asowsche Meer, dessen Küstenverlauf wir Richtung Südwesten folgen. Es sind anstrengend
heiße erste Tage, die wir in Russland verbringen und auch das flachste Meer der Welt, das dementsprechend aufgewärmt ist und in das
man eine Stunde hinaus geht, um nicht mehr Stehen zu können, kann uns nicht richtig erfrischen. Um der heißen Sonne und der
drückenden Luft nach einigen Tagen wieder zu entkommen, entschließen wir uns für einen Ortswechsel.
Folgt man dem Kuban vom Asowschen Meer stromaufwärts, gelangt man nach Tscherkessk, der Hauptstadt der Republik Karatschai-
Tscherkessien. Unser Weg führt uns mit dem Zug dorthin und in einem Marschrutka folgen wir dem Kuban weiter in den Süden bis nach
Dombaj, einem kleinen Ort nur wenige Kilometer von der georgischen Grenze entfernt. Nun sind wir auf etwa 1600m Höhe in den
kaukasischen Bergen angekommen. Die Luft ist hier deutlich besser als in den Asowschen Niederungen, die Temperatur angenehm kühl.
Ein LKW-Fahrer nimmt uns mit. Wir sitzen zu siebt in der Fahrerkabine, das Gepäck schaukelt auf der Ladefläche und aus dem Radio
dröhnt lautstark Musik. Als ich ihn frage, welche Sprache das sei, meint er, er sei Karatschaie und das sei Karatschaisch. Es erinnert mich
entfernt an Türkisch, ich habe es aber sicherlich noch nie gehört. Ich bin erstmals unmittelbar mit der ethnischen Vielfalt hier im Süden
Russlands konfrontiert. Im Gebirge werden wir einige Tage später einem Reiter ein Stück Waldviertler Nusstrudel schenken, den er bis
dahin sicherlich auch noch nie gegessen hat.
Im tiefer gelegenen Nachbarort Teberda angekommen, beginnt unser Aufstieg durch ein Tal in die Berge. Ein Bad in einem Bach kündigt
uns den Gletscher an, auf dem wir zwei Tage später stehen werden. Der Bach dient uns als Wasserversorgung und auch als Orientierung –
Wanderwege, wie wir sie aus Mitteleuropa kennen, gibt es hier nicht. Auf unserem Weg sehen wir immer wieder Kühe, Ziegen, Schafe und
Pferde. Unser Frühstück teilen wir am nächsten Morgen mit einem gut bewaffneten und wortkargen Hirten, bevor er mit seinen
Schäferhunden der Herde nachzieht und wir einen Steilhang zu einem Kamm hinaufklettern. Nach 800 Höhenmetern haben wir das steilste
Stück geschafft, wir schnappen gierig nach der dünnen Luft und genießen den weiten Ausblick, die Waldgrenze liegt nun weit unter uns.
Beim weiteren Aufstieg setzt dichter Regen ein. Wir sind mittlerweile auf 3000m und halten in Nebel und Geröllfeldern nach mit Gras
bewachsenen Flecken Ausschau, die uns einen halbwegs sicheren Tritt bieten. Die dicken Regentropfen werden jetzt von Hagel abgelöst
und der Nebel ist so dicht, dass man gerade noch die Schemen des Vordermanns erkennt. Einer unserer Burschen denkt sich „Jetzt ist es
auch schon wurscht“, packt seine Zahnbürste aus und putzt sich im Nebel die Zähne. Plötzlich bricht ein Sonnenstrahl durch die Wolken
und zaubert den frisch geputzten Zähnen ein Lächeln ins Gesicht: wir sehen unter uns einen See und etwas oberhalb – wir können
unseren Augen nicht trauen – steht ein kaputter Bauwagen. In der Abenddämmerung haben wir unser Ziel erreicht. Wir sind nach über
zwölf Stunden auf den Beinen und mit teils 20kg Gepäck am Rücken schon recht erschöpft, aber froh, hier oben etwas Holz gefunden zu
haben. Mit der dünnen Bergluft ein Kochfeuer zu entfachen stellt sich als ungewohnt schwieriges Unterfangen heraus, bis drei russische
Gebirgsjäger aus der Dunkelheit auftauchen und uns ihre Hilfe anbieten. Sie haben Benzin und so bringen wir das Feuer recht schnell in
Gang und das Essen kann endlich gekocht werden. Als wir ihnen unsere bisherige Wanderroute erklären, zeigen sie uns den Vogel und
schütteln anerkennend den Kopf – dieses Kompliment nehmen wir an und essen gemeinsam mit ihnen zu Abend. Ein alter Anhänger wird
mit Blechplatten zu einer windgeschützten Unterkunft umgebaut und so fallen wir, lange nachdem die rote Sonne in den Wolken unter uns
versunken ist, in einen wohlverdienten Schlaf.
Als wir erwachen, wird uns die Einsamkeit dieser verlassenen Mondlandschaft richtig bewusst, in der man nur den Wind hört. Wir machen
uns mit einem Rucksack Tagesgepäck und einer Klampfe auf den Weg Richtung Gipfel in etwa 3700m. Bald gibt es nur noch Geröllhalden
zu überklettern, aber selbst hier begegnen wir noch Pferden, die uns neugierig aber argwöhnisch mustern. Nach einigen Stunden des
Kletterns und Steigens gelangen wir zu einer Eisdecke die mit Geröllfeldern übersät ist – es ist der Gletscher, der die näheren Bäche und
Flüsse speist. Während er einige Meter unter unseren Füßen abschmilzt, springen wir von Stein zu Stein, kraxeln über eine Schneedecke
Richtung Kamm und hören ab und zu das Eis knacken. Kurze Zeit später donnert ein Stück weit weg eine Gerölllawine ins Tal. Als der
alltägliche Nachmittagsnebel über den Kamm heraufzieht und sich Regen und Hagel ankündigen, entscheiden wir uns auf halben Weg
dafür, unser Glück nicht zu sehr herauszufordern. Wir singen noch ein Lied und machen uns bald auf den Rückweg. Als wir unser Gepäck
erreichen setzt der Regen wieder ein und diesmal bleibt er über Nacht.
Der ursprüngliche Plan, durch die Berge nach Sotschi zum Schwarzen Meer zurück zu wandern, wird verworfen und das Kaspische Meer
wird zum neuen Ziel auserkoren. Dazu fahren wir mit dem Bus etwas weiter als Kisljar, einer Stadt in Dagestan. Als wir nach einer Zeit die
letzten Siedlungen hinter uns gelassen haben, erwartet uns aber eine weite Sandsteppe und am Horizont sehen wir Wälder. Wir sind
erschöpft von der langen Fahrt, den Polizeikontrollen und hungrig. Als wir essen, kommt ein junger Mann zu uns und lädt uns ein, bei ihm
und seinen Freunden einen Tee mit uns zu trinken. Das Meer sei noch sehr weit weg, dazwischen dichter Wald, in dem auch Wölfe leben.
Da wir ohnehin müde sind, nehmen wir die Einladung an. Die Gemeinschaft entpuppt sich als christliche Gruppe, im sunnitischen Dagestan
sind sie eine Minderheit, die hier Drogenabhängige aufnimmt und sie in einem strengen Tagesablauf aus Beten und Bauarbeiten am Haus
auf neue Gedanken und so in ein drogenfreies Leben zurück bringt. Wir schlagen unsere Kothe etwas abseits auf. Am Abend kommen sie
dazu und wir unterhalten uns am Feuer und singen. Am folgenden Tag helfen wir ihnen im Gegenzug für ihre Gastfreundschaft beim
Hausbau. Zementmischen und Mauern aufzustellen haben wir auf der Burg gelernt und so entstehen am Vormittag viele neue Ziegel, für
die wir den Sand aus der Steppe holen.
Am Ende gelangen wir doch noch ans Kaspische Meer. Im Gegensatz zum flachen und warmen Asowschen Meer, das wir zu Beginn der
Fahrt kennengelernt haben, ist es hier angenehm kühl und tief. Nun können wir erfrischt die Heimreise über Astrachan nach Wolgograd
antreten. Zufällig verbringen wir den Feiertag zum Gedenken an die Opfer des Krieges im ehemaligen Stalingrad. Wir besuchen einige
Museen, Denkmäler und Plätze rund um die Rolle der Stadt im Zweiten Weltkrieg.
Mit den vielen Eindrücken der letzten Wochen schließt sich der Kreis unserer Fahrt wieder am nächtlichen Feuer am Ufer des Don in
Rostov.
Gearhals